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Literatur- und Kulturgeschichte des Fremden 1880-1918
[abgeschlossen]

DFG-Forschungsprojekt am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität Berlin

Das Erkenntnisinteresse des Projekts "Literatur- und Kulturgeschichte des Fremden 1880-1918” richtet sich auf die historische Genese der Imagination, Wahrnehmung und Darstellung des außereuropäischen Fremden innerhalb der deutschen Kultur und ihrer literarisch vermittelten Traditionslinien. Die Untersuchung ist eingegrenzt auf einen Zeitraum, der historisch-politisch durch die Determinanten Kaiserreich und Erster Weltkrieg, nationalstaatliche Aktivitäten und nachholender Kolonialismus gekennzeichnet ist. Zu beobachten ist das Entstehen der kulturellen Formation 'Fremde', an der die Verschränkungen von ästhetischer Imagination und rapide anwachsendem Wissen sichtbar werden. Literarische Quellen wie Reisebeschreibungen, Tagebücher, journalistische Berichte und fiktionale Werke werden in ihrem Zusammenhang mit Ereignissen und Dispositionen der zeitgenössischen Politik und Wissenschaft rekonstruiert, namentlich mit den im Zuge des Kolonialismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandenen Disziplinen und Institutionen. Kulturelles Wissen von Fremden und Fremdem entstand in einem Diskurs- und Medienverbund, der sich zwischen den Bereichen Literatur (und anderen Künsten), neuen medialen Möglichkeiten (etwa der Fotografie), gesellschaftlichen Institutionen (wie Museum und Völkerschau) und der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung herausbildete.

Auf der Ebene der Wissensformen läßt sich die Schubwirkung der kolonialwissenschaftlichen Gründungsphase an der Neueinrichtung zahlreicher Lehrstühle, Institute und Forschungsprogramme ablesen. Verfolgt werden sowohl die epistemologischen Prozesse der Ausdifferenzierung einzelner ‘Fremde-Disziplinen’ (besonders Geographie, Ethnologie, Kultursoziologie, Medizin) als auch die Entwicklung des medialen Umfelds (Ausstellungen, Museumsgründungen, Zeitschriften). Von Interesse sind neben den fremdespezifischen Beiträgen der einzelnen Wissenschaften die Interferenzen zwischen diesen und der Literatur - man denke nur an die Überschneidungen und Austauschbeziehungen zwischen dem medizinischen und dem literarischen Malaria- bzw. "Tropenkoller”-Diskurs. Auf der Ebene der Darstellungsformen konturieren die spezifischen Beteiligungsmöglichkeiten der Literatur. Narrativieren, Dramatisieren und Illustrieren machen die Fremde erst zum massenwirksamen Kulturgut. Thematisiert werden die literarische Verarbeitung von Fernreisen und empirischen Forschungen, die Popularisierung geographischen und geologischen Wissens in literarischen Gazetten, aber auch die erstaunlich unbeachtet gebliebenen Auswirkungen der außereuropäischen Kulturkontakte auf die zeitgenössische ‘Höhenkamm’-Literatur. Die literarische Avantgarde schließlich erhofft sich vom Fremden die Auffrischung von Sujets und Techniken, identifizierbar etwa an den expressionistischen Versuchen, in der kulturellen Differenz die Dynamik des Elementaren wiederzugewinnen. Zu profilieren ist die Konkurrenzsituation, in die sich das Medium Literatur angesichts der vielfältigen Präsentationsformen des Faszinosums Fremde gestellt sieht. In seiner Attraktivität herausgefordert wird es etwa durch Zirkus, Panoptikum und Monströsitätenschau, deren Funktion alsbald das Kino der Sensationen beerbt. Ins Blickfeld rückt der Anteil der Literatur an einer sehr viel umfassenderen kulturellen Formation, die umgekehrt als Horizont und Stimulans der Literatur zu entdecken ist.

Ihrem Anspruch, die vielfältigen Auftrittsbedingungen der Fremde zu erfassen, die Differenz und das Zusammenspiel der verschiedenen Symbolisierungspraktiken, trägt die "Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte des Fremden” auch in der Bauform Rechnung. An die Stelle einer vereinheitlichenden Erzählung tritt eine ins chronologische Raster einzutragende Ereignis- und Strukturgeschichte, die sich mosaikartig aus Fallstudien zu einzelnen wichtigen Ereignissen, Motiven und Konflikten zusammensetzt. So reicht die materiale Bandbreite der Artikel vom geographischen Expeditionsbericht bis zur Umschrift einer Koloniallegende ins filmische Medium (Hans Albers als Carl Peters), von den musikalisch-akustischen Erkundungen eines Ethnographen wie Hornbostel bis zur Definition von Kultur als stilvoller Wildheit, wie sie Thomas Mann 1914 statuiert. In Frage aber kommen einzig und allein bedeutsame, das heißt weitere Kontexte sichtbar machende Kulminations- und Kreuzungspunkte von Diskursen. Die partikularen Bausteine bleiben als solche kenntlich, eine einsinnige "master narrative” - sei es der Faszination (Ursprungsgeschichte "edle Wilde” usw.) oder des Verfalls (fremdkulturelle Kompensation von Modernisierungsschäden) - wird ihnen nicht aufgenötigt; dafür bieten Querverweise und "Links" den Lesern einen Leitfaden. Aus dem Gesamt der Bausteine ergibt sich ein signifikantes Beziehungsgeflecht, das das Imaginationspotential des Fremden bei der Herausbildung nationaler Identität kenntlich macht, seinen Stellenwert in der kulturellen Selbstverständigung der Deutschen.
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Link zu Website oder Homepage: www2.rz.hu-berlin.de/literatur/projekte/fremde.htm
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